Hier geht's ums Ganze:
Die 3 Hobbyphilosophen Jerry, Dawson
und Susan
diskutieren über den Musikgeschmack.
Jerry: Was ein jeder "gute Musik" nennt, ist ja höchst subjektiv,
das können das Brandenburgische
Konzert von Bach, ein hübsch kakophonischer Vortrag, eine harte Punk-Darbietung oder
ein Werk von Schönfeld sein!
Susan: Das ist keine wirklich neue Erkenntnis!
Dawson: Genau! Mich interessiert, ehrlich gesagt, nur das, was ich selbst cool finde!
Jerry: Welche Musik findest Du denn gut?
Dawson: Al di Meola, Paco de Lucia, John Mc Laughlin, gute Gitarrenmusik eben.
Jerry: Warum?
Dawson: Keine Ahnung, das ist eben so.
Jerry: Wann hast Du diese Vorliebe denn bei Dir entdeckt?
Dawson: Na ja, so mit 16 oder 17 etwa, da sind wir nach der Schule oft zusammengekommen und haben diese Musik gehört - und Thomas und ich haben auch einige Lieder nachgespielt. Es war überhaupt eine tolle Zeit - eine coole Stimmung.
Jerry: Und das war auch die Zeit, wo Du überhaupt Deine eigenen Vorstellungen, Deine eigene Identität - unabhängig von Deinen Eltern - entwickelt hast?
Dawson: Mmmh, ja, könnte sein. Aber ich hatte schon immer meine eigene Identität!
Jerry: Ja? Hattest Du auch schon immer Deine politischen Ansichten, Deine Art Kleidung zu tragen, Deine Art Dinge zu betrachten?
Dawson: Nö, stimmt, das war eigentlich erst in dieser Zeit, so mit 16 oder 17 so.
Jerry: Also in der selben Phase, in welcher Du Deinen Musikgeschmack, Deine Vorlieben für Musik entwickelt hast.
Dawson: So gesehen irgendwie schon.
Jerry: Und im inneren verbindest Du mit Paco de Lucia immer noch die Stimmungen von einst, als ihr cool zusammen saßt?
Dawson: ja.
Jerry: Ich habe beobachtet, dass der Musikgeschmack eines jeden
in dieser "musikalischen Sozialisationsphase" - gewissermaßen in der Spätpubertät - festgelegt
wird und sich später nur noch marginal ändert. Das gilt eigentlich für alle!
Susan: Was heißt das konkret?
Jerry: Naja, all die, die in den späten 60igern und 70igern in diesem Alter waren, sind mit den Beatles, Stones, Led Zeppelin, Ten Years After usw. sozialisiert - das ist nach wie vor deren Musik - die kennen alle das "Woodstockfeeling".
Susan: Und in den 80igern waren es dann die Disco-Musik, die Punk-Musik und die Pop-Musik?
Jerry: Genau, und je stärker der Drang nach Eigenständigkeit und Abgrenzung von der Elterngeneration ist, desto extremer ist auch der Musikgeschmack: Punk-, Trash-, Death-Metal!
Susan: Das bedeutete dann umgekehrt: Je geringer das Bedürfnis nach Abgrenzung, desto konformer auch der Musikgeschmack? Also, ich meine, die Vorlieben der Eltern wurden übernommen oder erweitert, beispielsweise Frank Sinatra oder alter Rock'n Roll oder eben klassische Musik im Bildungsbürgertum?
Jerry: Ja, das ist das, was ich beobachtet habe.
Dawson: Und meine Vorliebe für Gitarrenmusik?
Jerry: Jahaaa, die resultiert aus Deiner spätpubertären Prägung in den Siebziger Jahren - bei nur geringer Abgrenzung zum Elternhaus.
Dawson: Haha, na klasse! Und wenn ich heute und jetzt gerade in der "Spätpubertät" wäre?
Susan: Dann würdest Du nur noch mit gesenktem Blick bei Whatsapp und Instragram herumfingern!
Jerry: Also, die heutigen 16 - 20 Jährigen sind geprägt durch die heutige Clubszene, also Hiphop, Drum'n Bass, Techno, Rave, New Electronics. Eine Musik, mit der die älteren kaum etwas anfangen können.
Susan: Aber meine Nichte hört nur Sido und Eminem, und sie geht ständig zu unanständigen Poetry-Slams!
Jerry: Mmmh, also meine Beobachtung gilt nur für so 60 - 70 Prozent. Ausnahmen und Abweichungen bestätigen die Beobachtung ...
Susan: Und "Deine Beobachtung" besagt also was?
Jerry: Sie besagt: Der Musikgeschmack einer Person wird durch die aktuelle Musik in seiner Spätpubertät - also zwischen 15 und 20 - ausgeprägt. Und sie wird genauer noch durch die Stärke der Abgrenzung vom Elternhaus festgelegt.
Dawson: Haha, das würde ja bedeuten, dass mein Musikgeschmack, der in der historischen Phase zwischen 15 und 20 entstand, weitgehend zufällig ist: Wenn ich früher geboren wäre, hätte ich andere Vorlieben, und wenn ich jünger wäre, hätte ich auch wieder ganz andere!
Jerry: Schon, ja!
Susan: Also, Jerry, ich stimmte Dir zu! Ich glaube, dass Deine Erkenntnis wirklich für 60 - 70 Prozent aller Menschen zutrifft. Aber was können wir mit Deiner Erkenntnis anfangen? Ist sie nicht eigentlich eine Binsenweisheit? Ist sie sogar überflüssig?
Jerry: Nicht ganz! Denn das Bewusstsein dieses Zusammenhangs ermöglicht es ja, andere mit Ihren spezifischen Vorlieben für Musik zu verstehen und die Bedeutung von Musik überhaupt zu verstehen. Und es ermöglicht vielleicht auch, dass man selbst neueren Strömungen und Stilen gegenüber offener ist, da man ja um die willkürliche Prägung des eigenen Geschmacks weiß. So kann man neue Stile, neue Formen entdecken ...
Dawson: Wenn ich das überhaupt möchte.
Jerry: Naja, wenn Du das nicht möchtest, bedeutet das Rückzug auf "Deine" Zeit, "Deine" Kohorte, ein Stehen bleiben - nach dem Motto "früher war alles besser" und "nur die Musik zu meiner Zeit - das war die einzig wahre".
Dawson: Aber ich habe gar kein Bedürfnis, neue Musikstile zu entdecken!
Susan: Ich habe gerade den Test "Welcher Musiker-Typ bist Du" gemacht, und ich bin wirklich erstaunt. Ihr solltet auch mal diesen Test machen! Ich habe damit nämlich herausgefunden, dass ich Musikhören als Flucht vor der Realität nutze.
Dawson: Wie bitte?
Susan: Ja, ich entfliehe den Zwängen, mir Gedanken um meine berufliche Zukunft zu machen, mir zu überlegen, welche Entscheidungen ich dafür treffen müsste. Indem ich mir Kopfhörer aufsetze und von schönen Dingen Träume oder in die Clubs gehe und dort abhänge, verdränge ich das alles.
Jerry: Aber die "schönen Dinge" sind doch auch Realität!
Dawson: Wenn ich gute Musik höre, bin ich einfach besser drauf. Ich verändere damit die Realität - oder das, was ich als Realität wahrnehme. Aber ich verdränge nichts.
Jerry: Genau. Zudem gehört zum Leben ja Anspannung und Entspannung - und zur Entspannung gehört auf jeden Fall Musik.
Susan: Aber es lenkt doch ab. Ich begebe mich doch in eine andere Welt, in andere Gefilde ...
Jerry: Sicher, aber das ist zum Entspannen ja auch Voraussetzung. Und eine Form der Entspannung ist das Abreagieren von Aggressionen. Das funktioniert mit Heavy Metal oder Punk - es gibt da die verschiedensten Möglichkeiten der Stimulation.
Susan: Dennoch hat gerade diese Musik einen animalischen, wilden Touch - etwas, was dem geordneten bürgerlichen Habitus entgegensteht. Und damit hat diese Musik auch eine Ventilfunktion - das Entdecken und Leben des wilden, ungezähmten Anteils in einem - vielleicht das Leben des "eigentlichen Ichs"?
Dawson: Stimmt. Vielleicht sollten wir öfter mal wieder "animalisch abhängen"?
Jerry: Das würde dann ja einen Kontrapunkt setzen zum
rational-kognitiven Dasein im beruflichen Alltag, der ja ein hohes Maß an Vernunft und
Angepasstheit abverlangt.
Dawson: Genau: Solche Musik, die als Gegenpol zum rational-kontrollierten Dasein wirkt, ist in ihrer Art ja gar nicht willkürlich!
Susan: Was willst Du damit sagen?
Dawson: Ich denke, in vielen archaischen Gesellschaften Afrikas waren es die Trommler, die die Tanzenden in einen hypnotischen Zustand brachten. In den Siebzigern war es die Rockmusik, die mit ihrem neuen Rhythmus Bauch und Gefühle angesprochen hat. Heute sind es Techno, Rave und "Modern Dance", die die Leute in einen hypnotischen Trance-Zustand versetzen. Und alle diese Stile haben gemeinsam einen eingängigen, teilweise monotonen Rhythmus - und dieses "Gemeinsame", das ist nicht willkürlich. Es ist das, was uns Menschen im Innersten anspricht!
Jerry: Mmmh, ja?
Susan: Ähhh, vielleicht ...